Vitamin D: Mythen, Fakten und seine komplexe Rolle im Immunsystem

Vitamin D: Mythen, Fakten und seine komplexe Rolle im Immunsystem

Vitamin D hat in den letzten Jahren enorm an Aufmerksamkeit gewonnen – sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien. Während es früher hauptsächlich mit der Knochengesundheit in Verbindung gebracht wurde, weiß man heute, dass es weitreichende Wirkungen auf das Immunsystem, Entzündungsprozesse und den Zellstoffwechsel hat. Doch viele Aussagen über Vitamin D sind stark vereinfacht oder sogar irreführend. In diesem Artikel beleuchten wir die tatsächliche Rolle von Vitamin D, die Risiken von…

1. Warum ist Vitamin D für den Körper essenziell?

Vitamin D ist ein fettlösliches Vitamin, das in seiner aktiven Form als Hormon wirkt. Es steuert zahlreiche Prozesse, darunter:

  • Regulation des Calcium- und Phosphathaushalts (wichtig für Knochen und Zähne)
  • Beeinflussung des Immunsystems (Modulation von Entzündungen und Immunzellen)
  • Regulierung der Genexpression (Vitamin D steuert über 1000 Gene)
  • Beteiligung an Zellwachstum, Differenzierung und Apoptose

Vitamin D kann vom Körper selbst synthetisiert werden, wenn die Haut ausreichend Sonnenlicht ausgesetzt ist. Alternativ kann es über Nahrung oder Supplemente aufgenommen werden. 

 

2. Mythos: „Je mehr Vitamin D, desto besser“

Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass hohe Vitamin-D-Werte immer gesundheitsfördernd sind. In der Realität ist Vitamin D jedoch ein Hormon mit regulierenden Funktionen, das sowohl förderliche als auch hemmende Effekte auf das Immunsystem haben kann.

  • Ein Vitamin-D-Mangel kann die Anfälligkeit für Infektionen erhöhen, insbesondere für Atemwegsinfekte wie Covid-19.
  • Ein Überschuss an Vitamin D kann jedoch immunsuppressiv wirken, indem es entzündungsfördernde Immunzellen hemmt.
  • Die optimale Versorgung ist individuell unterschiedlich und hängt von Faktoren wie Stoffwechsel, Genetik und Gesundheitszustand ab.

Während früher Blutwerte von 20-30 nmol/l als normal galten, empfiehlt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) heute Zielwerte von >50 nmol/l, mit Obergrenzen von 120 nmol/l. Höhere Werte (>150 nmol/l) können jedoch problematisch sein und zu einer Überaktivierung des Vitamin-D-Stoffwechsels führen.

 

3. Vitamin D und das Immunsystem – ein zweischneidiges Schwert

Die Rolle von Vitamin D im Immunsystem ist komplex und kontextabhängig. Während es in manchen Situationen das Immunsystem stärkt, kann es in anderen Fällen entzündungshemmend oder sogar unterdrückend wirken.

A) Positive Effekte von Vitamin D auf das Immunsystem:

  • Fördert die Produktion antimikrobieller Peptide (AMPs), die gegen Bakterien und Viren wirken
  • Stärkt die Aktivität von Makrophagen und natürlichen Killerzellen (NK-Zellen), die für die Infektionsabwehr essenziell sind
  • Unterstützt die Regulation von T-Zellen, was die Balance zwischen pro- und antiinflammatorischen Prozessen beeinflusst

B) Vitamin D als Immunmodulator – nicht immer förderlich

Vitamin D kann auch entzündungshemmend wirken, indem es proinflammatorische Zytokine (z. B. IL-6, TNF-α) reduziert. Dies ist hilfreich bei chronischen Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen. Allerdings kann diese Hemmung problematisch sein:

  • Bei akuten Infektionen kann eine hohe Vitamin-D-Dosis kontraproduktiv sein, da sie Immunreaktionen abschwächen könnte.
  • Im frühen Stadium einer Infektion ist eine starke Immunantwort notwendig, um den Erreger zu bekämpfen. Eine übermäßige Vitamin-D-Supplementierung könnte diese Reaktion unterdrücken.

Beispiel Covid-19: Studien zeigen, dass niedrige Vitamin-D-Spiegel mit einem erhöhten Infektionsrisiko korrelieren. Gleichzeitig kann eine unkontrollierte Gabe von Vitamin D während einer akuten Infektion immunhemmend wirken und den Verlauf möglicherweise verschlechtern.

 

4. Der Vitamin-D-Stoffwechsel: Mehr als nur ein Blutwert

Ein häufiges Missverständnis ist die Annahme, dass der Vitamin-D-Serumspiegel (25(OH)D) allein ausreicht, um den Status zu bestimmen. Tatsächlich ist der Vitamin-D-Stoffwechsel hochkomplex und besteht aus mehreren Regelkreisen:

A) Zentraler Vitamin-D-Stoffwechsel (Calcium-Regulation)

  • Gesteuert durch das Parathormon (PTH)
  • Wichtig für den Calcium- und Phosphathaushalt
  • Reguliert über die Niere die Umwandlung von 25(OH)D in die aktive Form 1,25(OH)₂D (Calcitriol)

B) Peripherer Vitamin-D-Stoffwechsel (Lokal in Geweben und Immunzellen)

  • Zellen des Immunsystems (z. B. Makrophagen) können selbst aktiv Vitamin D umwandeln
  • Abhängig von lokalen Enzymen wie CYP27B1 (aktivierend) und CYP24A1 (abbauend)
  • Eine Dysregulation dieses Systems kann zu chronischen Entzündungen oder Immunschwächen führen

Ein einfaches Messen des 25(OH)D-Spiegels kann daher irreführend sein. Wichtiger ist das Verhältnis zwischen 25(OH)D und 1,25(OH)₂D, um Rückschlüsse auf eine potenzielle Fehlregulation zu ziehen.

 

5. VDR-Blockade: Wenn Vitamin D nicht mehr richtig wirkt

Vitamin D wirkt über den Vitamin-D-Rezeptor (VDR), der als Transkriptionsfaktor in den Zellkernen aktiv ist. In manchen Fällen kann die VDR-Funktion jedoch gestört sein. Dies nennt man eine VDR-Blockade, die durch verschiedene Faktoren verursacht werden kann:

  • Chronische Infektionen (z. B. Borrelien, Epstein-Barr-Virus, Mykobakterien)
  • Dauerhafte Entzündungen und oxidativer Stress
  • Vitamin-A-Mangel (Retinol ist als Co-Faktor für den VDR notwendig)

Wenn der VDR blockiert ist, kann Vitamin D nicht optimal wirken – in diesen Fällen kann eine hohe Vitamin-D-Supplementierung kontraproduktiv sein. Stattdessen muss die Ursache der Blockade behandelt werden, beispielsweise durch Entzündungshemmung, Mikronährstofftherapie oder gezielte Immunmodulation.

 

6. Fazit: Die richtige Balance ist entscheidend

Vitamin D ist zweifellos ein essenzieller Nährstoff mit weitreichenden gesundheitlichen Effekten. Doch sein Einfluss auf das Immunsystem ist dynamisch und erfordert eine differenzierte Betrachtung:

✔ Ein Vitamin-D-Mangel sollte vermieden werden, da er das Infektionsrisiko erhöhen kann.
✔ Eine übermäßige Vitamin-D-Supplementierung kann jedoch ebenfalls problematisch sein – besonders wenn der VDR blockiert ist oder eine Dysregulation des Stoffwechsels vorliegt.
✔ Die alleinige Messung des 25(OH)D-Spiegels reicht nicht aus – eine umfassendere Diagnostik ist erforderlich.
✔ Vitamin D sollte immer im Kontext des individuellen Gesundheitszustands betrachtet werden – pauschale Empfehlungen sind nicht sinnvoll.

Statt blind hohe Dosen Vitamin D einzunehmen, sollte ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, der auch Entzündungsmarker, Co-Faktoren (z. B. Vitamin A, Magnesium) und die individuelle Stoffwechsellage berücksichtigt.

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